Heimliche Rache aus der DDR-Vergangenheit?

Wie die deutsch-deutsche Flüchtlingsgeneration in die Altersarmut geschickt wurde.

Von Jürgen V. Holdefleiß

Das Raunen im Kreis der Abgeordneten war deutlich, empörte Zwischenrufe. Die Abgeordnete Martina Bunge (Die Linke) hatte in ihrem Redebeitrag die Flucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik als einen "freiwilligen" Weggang bezeichnet. Sebastian Blumenthal (FDP) legte sein Blatt beiseite und reagierte erregt: " Meine Familie gehört zu denen, die damals ‚freiwillig die DDR verlassen’ haben, wie Sie es hier so süffisant dargestellt haben. Es war eine große Herausforderung, Ihrem Beitrag zuzuhören, ohne die Fassung zu verlieren."

 

Wie kam es zu der flapsigen Bemerkung der Abgeordneten Bunge? Und wie kam es dazu, dass über die Fallgruppe „ehemalige DDR-Flüchtlinge“, abweichend vom vorgegebenen Thema, überhaupt debattiert wurde? Gegenstand dieser Bundestagsdebatte, die am 02.12.2010 stattfand, war eigentlich ein Antragspaket der Linken zu 19 verschiedenen Fallgruppen. Ein Antrag, „ehemalige DDR-Flüchtlinge“ betreffend, war nicht darunter. Wieso geisterte der „DDR-Flüchtling“ dennoch durch die Debatte?

 

Mit dem Einigungsvertrag vom 31.08.1990 war der gesamtdeutsche Gesetzgeber beauftragt worden, ein Gesetz zu schaffen, das die Renten und Rentenanwartschaften der aktuellen Bürger der DDR bundesrechtsverträglich regeln sollte. Schließlich stand der formelle Beitritt der DDR ins Haus, und der Rechtsraum der beitretenden DDR musste mit Bundesrecht versorgt werden.

 

Kaum war das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) in Kraft, hagelte es Beschwerden, Proteste und Schuldzuweisungen aus den neuen Bundesländern. Besonders ausgezeichnet hatten sich dabei die Funktionäre der ehemaligen DDR aus Partei, Regierung, bewaffneten Organen etc. Sie konnten durch Klagen beim BVerfG zwar einige erstaunliche Nachbesserungen für sich erreichen, blieben aber konsequent bei ihrer Auffassung, von einer „Siegerjustiz“ mit einem „Rentenstrafrecht“ belegt worden zu sein.

 

Unter den 19 Anträgen war einer mit dem schönen Titel „Wertneutralität im Rentenrecht auch für Personen mit bestimmten Funktionen in der DDR“. „Bestimmte Funktionen (?) …“: Wer mag wohl gemeint sein? Natürlich: die Hauptverantwortlichen innerhalb der Nomenklatura mit besonderer Staats- und Parteinähe. Sicherlich war es gerade diesem Antrag geschuldet, dass der Typus „DDR-Flüchtling“ dann doch Einzug in den parlamentarischen Diskurs nahm.

Bietet er doch eine interessante Täter- / Opfer- Konstellation:

Auf der einen Seite diejenigen, die verantwortlich für den Staat DDR standen und auf der anderen Seite die, die dieses System nicht ausgehalten und der DDR den Rücken gekehrt haben. Die einen haben die DDR als den „Hort des Friedens“ und der „sozialistischen Errungenschaften" verherrlicht und den „imperialistischen Staat BRD“ gehasst und bekämpft. Die anderen haben den Staat DDR als ideologisches Gefängnis empfunden und sind unter Gefahren und unter Inkaufnahme von Verlusten in den demokratischen und freiheitlichen Staat Bundesrepublik Deutschland geflohen. Die einen haben alles getan, den maroden und schon längst delegitimierten Staat DDR zu zementieren. Die anderen haben durch ihre Flucht einen Beitrag zur moralischen und politischen Diskreditierung des Staatswesens DDR und schließlich zu dessen Zusammenbruch geleistet, was letztlich die Herstellung der deutschen Einheit erst möglich machte.

Und noch eine Konstellation ist interessant:

Das Rentenüberleitungsgesetz, über dessen Auswirkungen auf einige Personengruppen sich „Die Linke“ mit ihren Anträgen beschwert, betrifft diese 19 Fallgruppen planmäßig und bestimmungsgemäß. Alle waren sie zu jener Zeit aktuelle Angehörige der DDR-Sozialversicherung und gehörten damit zu den ausgewiesenen Adressaten der Rentenüberleitung. Auch die „Personen mit bestimmten Funktionen in der DDR …“. Auch diese wissen, dass sie rechtmäßig zu den Adressaten dieses Gesetzes gehören, und sie beschweren sich lediglich über dessen Inhalt.

 

Die ehemaligen DDR-Flüchtlinge hingegen waren, als die Herstellung der deutschen Einheit verabredet wurde, bereits Angehörige des Staates „Bundesrepublik Deutschland“. Allesamt hatten sie ihren Status als Staatsbürger der DDR verloren bzw. aberkannt bekommen. Der Beitritt der DDR war ein Ereignis, bei dem ihre Angelegenheiten nicht zur Disposition standen, waren sie doch durch ihre individuelle Eingliederung Staatsangehörige der Bundesrepublik Deutschland geworden. Zu den Bürgern des beitretenden Staates DDR gehörten sie nicht. An keiner Stelle des Gesetzeswerkes, in keinem Artikel des 2. Staatsvertrages und in keinem der einschlägigen Protokolle des Bundestages, in keiner der einschlägigen Fachveröffentlichungen zum Sozialrecht steht geschrieben, dass die in der alten Bundesrepublik eingegliederten DDR-Flüchtlinge in den Prozess der Renten-überleitung hineingezogen werden sollen.

 

Und doch sollten sie erleben, dass der Beitritt der DDR tief in ihre politische und soziale Situation eingreifen würde. Aus bisher ungeklärten Gründen und unter einer bisher ungeklärten Urheberschaft hat man dem 12. Bundestag als zuständigem Gesetzgeber das RÜG in Gestalt eines Trojanischen Pferdes vorgeführt. Die textliche Gestaltung war unauffällig. Keiner der Abgeordneten konnte es den Paragrafen ansehen, dass das RÜG auch zur Enteignung der in der alten Bundesrepublik eingegliederten DDR-Flüchtlinge herhalten sollte.

 

Mit einem Verwaltungsakt, der von einer absurden Rätselhaftigkeit geprägt ist (es ist weder ein Datum noch eine Unterschrift noch der Wortlaut bekannt, es gibt offensichtlich kein Protokoll über ein entsprechendes Vorhaben), wird den Gesetzesanwendern eine von den Vertragspartnern des Einigungsvertrages nicht vereinbarte Interpretation des Rentenüberleitungsgesetzes vorgeschrieben. Lange nach dem Inkrafttreten des RÜG, vermutlich erst in den späten neunziger Jahren, von den Medien und der Öffentlichkeit unbemerkt, von der Politik geduldet, kam der Inhalt des Trojanischen Pferdes zutage. Die Rentenversicherer waren angewiesen, in die Rentenkonten aller DDR-Flüchtlinge rückwirkend einzugreifen und die Ergebnisse der jeweiligen individuellen Eingliederung rückabzuwickeln. Ersatzweise sollten neue Rentenkonten errichtet werden, wobei die Betroffenen zynischerweise den Folgen ihrer in der DDR geübten Widerständigkeit und ihrer Zivilcourage ausgeliefert werden. Die Rentenversicherer wurden angewiesen, die Betroffenen über die Löschung und Neubewertung ihrer Rentenkonten nicht zu informieren, offensichtlich um ihnen damit den direkten Weg zum BVerfG abzuschneiden. Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist zu keiner Zeit veranlasst worden.

 

Die Griechen hatten Troja durch eine Kriegslist erobert, indem sie ihnen ein Geschenk darreichten, dessen verheerenden Inhalt die Adressaten nicht erkannt haben, wohl auch nicht erkennen konnten. Der 12. Bundestag hat mit dem Text des RÜG ein Gesetz vorgelegt bekommen, das den Anschein erweckte, als ob es bestimmungsgemäß für die Anwendung auf die damals aktuellen Angehörigen der DDR-Sozialversicherung gemünzt sei. Die Abgeordneten konnten nicht erkennen, dass mit den Texten ein übler Nebenzweck verfolgt werden sollte. Mit einer nach dem Muster des Trojanischen Pferdes konzipierten List wurden die „Republikflüchtigen“, in der damaligen DDR generell ungeliebt, nachträglich bestraft.

 

Die List war gründlich durchdacht: Die Betroffenen wurden bewusst im Unklaren darüber gelassen, dass sie für eine Bestrafung vorgesehen waren. Damit waren sie der Möglichkeit beraubt, sich zeitnah gegen die grundgesetzwidrige Einbeziehung in den Prozess der Rentenüberleitung zu wehren und für den Fall des Scheiterns rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen.

 

Dass die Betroffenen (unabhängig von ihren ausgeübten Berufen und ihrer Qualifikation) durch diesen Eingriff auf das Niveau eines Hilfsarbeiters herabgestuft werden, damit Einbußen von bis zu mehreren Hundert Euro hinzunehmen haben und in manchen Fällen einer eindeutigen Altersarmut ausgesetzt werden, wird durch die Initiatoren des Verwaltungsaktes billigend in Kauf genommen. Ebenso durch die Politik, die ungerührt zuschaut. Eine politische und soziale Diskriminierung, für die es im nachkriegsdeutschen Rentenrecht kein Beispiel gibt.

 

Ein bitteres Fazit: Das Rentenüberleitungsgesetz ist förmlich beschlossen und damit für die Judikative verbindlich. Dass die abseits des Gesetzgebungsverfahrens zu Lasten der ehemaligen DDR-Flüchtlinge eingebauten interpretatorischen Kunststücke den Abgeordneten des damaligen beschlussfassenden Bundestages nicht ersichtlich sein konnten, ist dabei unerheblich. Von dieser grotesken Situation ist jedes individuelle Klageverfahren vor dem Sozialgericht gezeichnet: Die Klage auf Wiederherstellung des Rechts wird abgewiesen, auch in der 2. Instanz. Dort wird zusätzlich noch das Verbot der Revision verhängt und damit verhindert, dass sich das Bundessozialgericht damit auseinandersetzt.

 

Eine Lösung des Konfliktes ist nur auf politischem Wege möglich. In diesem Sinne fordert die deutsch-deutsche Flüchtlingsgeneration, vertreten durch die „Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge e.V.“ (IEDF), von der Politik die Wiederherstellung des Rechts.

 

In jener Plenarsitzung sah sich die Politik erstmalig konfrontiert mit 2 Fallgruppen, wie sie entgegengesetzter nicht sein können: auf der einen Seite die Nomenklaturkader der DDR („Täter“) und auf der anderen Seite die DDR-Flüchtlinge („Opfer“). Die Täterseite verfügt über gut funktionierende Netzwerke, und sie hat es bislang eindrucksvoll verstanden, diese für sich zu nutzen. Damit hat sie außerordentlich viel erreicht: Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, bei den Medien, bei den Handlungsträgern der Politik. Und die Ehre, dass man sich mit ihnen angemessen und weitgehend sachlich auseinandersetzt. Und manche ökonomisch wirksamen Erfolge. Die Opferseite hingegen drängt seit Jahren auf eine sachliche Auseinandersetzung. Eingaben an die Organe der Exekutive werden ignoriert und mit leicht widerlegbaren Phrasen abgetan.

 

Der Vorstand der IEDF hat den Petitionsausschuss des deutschen Bundestages mehrfach und eindringlich um persönliche Anhörung gebeten. Vergeblich bislang. Der Vorstand ISOR (Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR), also ein Verein, der sich vorrangig um die Altersversorgung der DDR-Nomenklatura kümmert, hatte bereits am 08.11.2010 die Gelegenheit einer öffentlichen Anhörung vor dem Petitionsausschuss erhalten. Der Vorsitzende von ISOR konnte in einem geschlossenen Vortrag von „Rentenstrafrecht“ sprechen und von der „Missachtung der Lebensleistung“ der von ihm vertretenen „Personen mit bestimmten Funktionen…“.

 

Auch wenn die rechtlichen Möglichkeiten derer, die sich um ISOR scharen, im wesentlichen ausgeschöpft seien mögen, auch wenn die Politik versucht deutlich zu machen, dass sie weitere Zugeständnisse nicht zu machen bereit ist, immerhin hatte ISOR die Genugtuung, ein Podium gehabt und die Politiker gezwungen zu haben, ihnen mündlich auf ihre Argumente zu antworten. Der Referent ließ durchblicken, dass man durchaus bereit sei, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen und die Bundesrepublik Deutschland dort wegen der Verletzung der Menschenrechte zu verklagen, falls die Politik den erhobenen Forderungen nicht nachkommt. Die Netzwerke, die der ehemaligen DDR-Nomenklatura zur Verfügung stehen, lassen die Prognose zu, dass ihnen das gelingt und dass sie dort Gehör finden.

 

Was die Opfer betrifft, die verfügen über keine Netzwerke. Sie haben keine Lobby. Allenfalls wären das die Abgeordneten des Bundestages, wenn diese sich auf ihre originäre Aufgabe besinnen, nämlich das Regierungshandeln auf Basis unseres Grundgesetzes kritisch zu kontrollieren. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass die jeweilige Regierungsmehrheit des Bundestages von der Regierung zunehmend als Erfüllungsgehilfe angesehen und in diesem Sinne auch so behandelt wird.

 

Welches ist die Aufgabe der Legislative? Der Bundestag gibt eine Broschüre heraus, in der man es lesen kann (Parlamentsdeutsch – Erläuterungen zu parlamentarischen Begriffen):

„Wichtigste Aufgabe …Beratung und Verabschiedung von Gesetzen im inhaltlichen und formellen Sinn und die Kontrolle der Exekutive“. Unseren Kindern wird es noch einleuchtender erklärt (www.kuppelkucker.de): „Der Bundestag kontrolliert die Arbeit der Bundesregierung. Die Regierung muss dem Bundestag genau erklären, was sie tut. Das ist so geregelt, damit die Bundesregierung nicht einfach machen kann, was sie will.“ Kontrolle der Exekutive! Damit die Regierung nicht einfach machen kann, was sie will! Das ist eigentlich deutlich genug.

Im vorliegenden Falle ist das Regierungshandeln durch das geprägt, was die Nomenklatura der untergegangenen DDR sich gewünscht hat. Die Vermutung ist nicht weit hergeholt.  Die ersten gesamtdeutschen Wahlen und die Bildung der ersten gesamtdeutschen Regierung haben den Ministerien frisches Blut aus den neuen Bundesländern zugeführt. Die Deutsche Rentenversicherung hatte aus der Konkursmasse der DDR Spezialisten der DDR-Rentenversicherung übernommen. Es liegt nahe, dass die Bestrafung der ehemaligen DDR-Flüchtlinge auf Veranlassung, zumindest unter Duldung der ostdeutschen Seite auf die Agenda gekommen ist.  Proteste gegen eine derartige Maßnahme werden jedenfalls von dort nicht gekommen sein.

 

Die IEDF fordert im Namen der deutsch-deutschen Flüchtlingsgeneration die Regierung auf, das verletzte Recht wieder herzustellen und die Enteignung der ehemaligen DDR-Flüchtlinge rückgängig zu machen.

Der Autor

Dr.-Ing. Jürgen V. Holdefleiß, Vorsitzender des bundesweit tätigen gemeinnützigen Vereins "Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge" (IEDF). Der Verein kämpft gegen eine rückwirkende Enteignung der DDR-Übersiedler, die vor dem Fall der Mauer in der Bundesrepublik ansässig wurden, s.a. www.iedf.de