Wie steht es mit Demokratie und Freiheit?

Kritische Anmerkungen zum Programmentwurf der Partei „Die Linke“ (2010)

Von Armin Pfahl-Traughber

1. Einleitung

„In der neuen ‚Linken’ scheint die Neu- bzw. Rückbesinnung auf ‚das Kollektive’, ‚die Massen’ und ihre Gleichheit zu reüssieren, und manche glauben dabei, man könne den Freiheitsbegriff und die Individualität getrost ‚den anderen’ überlassen.“ Diese Einschätzung formulierte Klaus Lederer, Berliner Landesvorsitzender der Partei „Die Linke“ in den „Blättern für deutsche und internationale Politik (Nr. 7 vom Juli 2009, S. 98). Und weiter bemerkte er dort: „Diese Herablassung gegenüber Individualismus und individuellen Freiheitsrechten ist eine unschöne linke Tradition.“ Um so wichtiger ist es angesichts dieser – durchaus anerkennenswert selbstkritischen – Einschätzung danach zu fragen, wie es „Die Linke“ mit Demokratie und Freiheit hält. Dazu bietet sich ein kritischer Blick in den „Ersten Entwurf für ein Programm der Partei DIE LINKE“ von der Programmkommission an. Aus dessen Text lassen sich zwar nicht allein die eigentlichen Grundpositionen ableiten, aber immerhin steht er für das öffentliche Selbstverständnis einer politischen Organisation.

 

2. Bejahung des „Demokratischen Sozialismus“

 An mehreren Stellen des Entwurfs bekennt man sich zu einem „demokratischen Sozialismus“ (S. 3, 11, 14, 25), was angesichts der vorherigen Bezeichnung eines Teils der Parteials „Partei des demokratischen Sozialismus“ nicht verwundern kann. Kritiker verwiesen mitunter darauf, dass „Demokratie“ und „Sozialismus“ einen Gegensatz bildeten und es demgemäss keinen „demokratischen Sozialismus“ geben könne. Dieser Auffassung kann man bei einer Gleichsetzung von „Sozialismus“ mit politischen Systemen wie der DDR zustimmen. Es gibt aber sehr wohl eine Tradition des „demokratischen Sozialismus“ im Sinne moderner demokratischer Verfassungsstaaten. Als dessen „geistiger Vater“ gilt Eduard Bernstein, der für einen parlamentarischen, reformerischen und schrittweisen Weg zum Sozialismus eintrat. Im Entwurf für das neue Parteiprogramm bezieht man sich aber nicht auf Bernstein, sondern auf Rosa Luxemburg. Sie war aber eine erklärte Gegnerin dieses „demokratischen Sozialismus“ und eine Protagonistin klassischer Revolutionsforderungen.

 

3. Forderung nach „Systemwechsel“

I: Wirtschaft

Bereits zu Beginn spricht der Programmentwurf davon, dass man angesichts von sozialen Missständen und Ungerechtigkeiten eine bessere Zukunft anstrebe. Dabei handelt es sich in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft um ein mitunter sogar gebotenes, zumindest aber legitimes Anliegen. Bei der Partei „Die Linke“ geht diese Auffassung allerdings mit der Einforderung des „Systemwechsels“ einher, heißt es doch im Text: „Um dies zu erreichen, brauchen wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem“ oder: „Wir kämpfen für einen Systemwechsel, weil der Kapitalismus, der auf Ungleichheit, Ausbeutung, Expansion und Konkurrenz beruht, mit diesen Zielen unvereinbar ist.“ (S. 3). Demnach soll der Kapitalismus grundlegend durch den Sozialismus überwunden werden. Diese Zielsetzung muss nicht gegen die Minimimalbedingungen demokratischer Verfassungsstaaten gerichtet sein, da diese mit dem Bezug auf Grundrechte, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität keine Aussagen zur Wirtschaftspolitik enthalten.

 

4. Forderung nach „Systemwechsel“

II: Politik

In einem Punkt könnte allerdings eine entsprechende Zuordnung erfolgen: Zu den Grundrechten gehört auch das Recht auf Besitz. Eine Enteignung ohne angemessene Entschädigung im Rahmen eines Übergangs zum Sozialismus würde demnach schon einen Verstoß gegen die erwähnten Prinzipien darstellen. Zu den damit verbundenen Fragen gibt es aber im Programm keine Aussagen. Da man sich an anderer Stelle positiv auf Karl Marx und Friedrich Engels bezieht (S. 5) und beide im Kontext ihres Basis-Überbau-Modells einen direkten und kausalen Zusammenhang von der Ökonomie auf die Politik postulierten, lässt sich hier aber wie folgt argumentieren: Die rigorose Veränderung der wirtschaftlichen Grundlage der Gesellschaft schließt notwendigerweise in dieser Perspektive auch die rigorose Veränderung der politischen Grundlage der Gesellschaft ein. Dazu findet man im Programmentwurf aber keine dezidierten Aussagen. An anderer Stelle ist eher diffus von der „Erneuerung als demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ (S. 18) die Rede.

 

5. Berufung auf die „Klassiker“: Marx und Luxemburg

Beachtung verdient bei diesen Fragen auch die Berufung auf die „Klassiker“ in Gestalt von Marx und Engels (S. 5) sowie Luxemburg (S. 11). Für alle drei genannten Denker kann – unabhängig von unterschiedlichen Interpretationen in der Fachliteratur– gelten: Ihre politischen Theorien lassen sich in Gänze nicht mit den Normen und Regeln demokratischer Verfassungsstaaten in Einklang bringen: Die jeweils eingeforderte politische Homogenität schließt politischen Pluralismus aus; der propagierte Systemwandel richtete sich auch gegen die Teilung der Gewalten in einem Staat; und der Parlamentarismus sollte zugunsten einer Art „Rätemodell“ überwunden werden. Entgegen weit verbreiteter Auffassungen, die Luxemburg für eine „demokratische Kommunistin“ halten, bezog sich ihr Freiheitsverständnis nur auf das eigene sozialistische Lager und nicht auf alle politischen Kräfte. Bemerkenswert in diesem Kontext ist übrigens auch das, was fehlt: eine Berufung auf die „Klassiker“ eines „demokratischen Sozialismus“ im oben erwähnten Sinne.

 

6. Historisch-politische Selbstverortung

Überhaupt irritieren im Programmentwurf die historisch-politischen Selbstverortungen, steht dort doch zu lesen: „DIE LINKE knüpft an linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung“ an, oder: Die KPD gehöre „heute ebenso zum historischen Erbe der LINKEN wie die Geschichte der Sozialdemokratie“ (S. 5). Dies geht aber ideenhistorisch nicht auf: Die KPD und die SPD standen sich in der Weimarer Republik verfeindet gegenüber, da die KPD offen deren politische Ordnung bekämpfte und die SPD zeitweilig gar als „sozialfaschistisch“ ablehnte. Man kann sich daher nicht gleichzeitig auf die Tradition beider Parteien beziehen. Immerhin war die KPD zwischen 1928 und 1953 sogar stalinistisch ausgerichtet. Da die „kommunistische Arbeiterbewegung“ im ersten Zitat linksdemokratischen Positionen zugeordnet wird, müsste die Partei „Die Linke“ auch die KPD als demokratisch einschätzen, was wiederum interessante Rückschlüsse auf deren Demokratieverständnis erlaubt.

 

7. Deutung der DDR-Entwicklung

Aufmerksamkeit bezüglich historisch-politischer Aspekte verdienen auch die Ausführungen zur DDR. Man hebt die „Beseitigung von Arbeitslosigkeit“ und „ein umfassendes soziales Sicherungssystem“ positiv hervor, betont aber auch kritisch die „Erfahrungen staatlicher Willkür und eingeschränkter Freiheiten“. Außerdem heißt es „Reformansätze wurden ... autoritär abgewürgt“ oder „Demokratie blieb auf der Strecke“. Beachtung verdient in diesen Formulierungen das fehlende Subjekt: Wer trug die Verantwortung für die Fehler, worauf müssen die Entwicklungen zurückgeführt werden? Man formuliert zwar, der „Sozialismusversuch“ sei von „einer Staats- und Parteiführung autoritär gesteuert“ worden. Ob diese Entwicklung mit moralischen Charakterdefiziten der Akteure oder mit Grundlagen in der politischen Ideologie der Partei zusammenhing, erörtert der Text nicht näher. Als Lehre bleibt dann offenbar nur, dass die beabsichtigte Überwindung des Kapitalismus „von der großen Mehrheit des Volkes“ (S. 6) mitgetragen werden soll.

 

8. Forderungen jenseits des Grundgesetzes

Einen solchen politischen Weg beschwört man als unabdingbare Notwendigkeit, ist doch von einem Einsatz für eine grundlegende Umgestaltung“ auf dem „Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft“ die Rede. Bereits durchgesetzte demokratische, rechtsstaatliche und sozialstaatliche Errungenschaften gelten „als Ausgangspunkt für weitergehende Veränderungen“ (S. 23), was eben auch eine fundamentale Infragestellung der politischen und nicht nur der wirtschaftlichen Gegebenheiten bedeuten würde. Für die Ökonomie dürfte sich dies wohl nicht auf eine stärkere Orientierung auf die soziale Marktwirtschaft beschränken, gilt sie doch als „Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital ..., der die Herrschaft des Kapitals nicht in Frage stellte“ (S. 7). Man müsste dann im politischen Bereich wohl auch über das Grundgesetz und die freiheitliche demokratische Grundordnung hinausgehen. Selbst ein formales Bekenntnis zu Beidem findet man in dem Text nicht, obwohl es früher sogar Deutungen im Sinne eines Weges zum Sozialismus über das Grundgesetz gab (Abendroth).

 

9. Instrumentelles oder überzeugtes Demokratieverständnis

Sprechen hier aber nicht Forderungen nach einer Stärkung der partizipativen Demokratie und der individuellen Rechte für eine Akzeptanz der Normen und Regeln des demokratischen Verfassungsstaates? Eine solche offizielle Position konnte man auch bei der KPD, die im Programmentwurf als „linksdemokratisch“ gilt, aber pro-stalinistisch war, in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Die Forderung nach Grundrechten und Partizipation hatte aber nur einen instrumentellen Charakter, d. h. sie sollte die politischen Wirkungsmöglichkeiten der KPD als oppositionelle Kraft erhöhen. Als Partei an der Macht in Form der SED akzeptierte man Beides noch nicht einmal für die eigenen Mitglieder. Ein ähnlich rein instrumentelles Verhältnis zu Grundrechten und Partizipation soll hier der Partei „Die Linke“ nicht pauschal unterstellt werden. Da sie aber zu diesen Fragen für die Zeit nach der Errichtung des Sozialismus keine Angaben macht, darf dies doch im Lichte der historischen Gesichtspunkte zumindest hinterfragt und problematisiert werden.

 

10. Keine Akzeptanz des antiextremistischen Konsens

Auch die Aussagen im Programmentwurf zum Extremismus laden zu solchen Überlegungen ein: Eindeutig bringt man seine grundlegende Ablehnung des Rechtsextremismus zum Ausdruck (S. 20), welcher allerdings überwiegend unter der Bezeichnung „Faschismus“ firmiert. Damit erfolgt zumindest eine verbale Annäherung an das linksextremistische Verständnis: Dieses erkennt verständlicherweise nur eine Gefahr für die Demokratie von „rechts“, aber nicht von „links“. Das Thema „Linksextremismus“ kommt im gesamten Programmtext nicht vor. Man nimmt daher auch keine Abgrenzung zu entsprechenden Organisationen vor, was angesichts einer gelegentlichen Bündnispolitik mit Angehörigen der gewaltgeneigten Autonomen-Szene oder der marxistisch- leninistischen DKP nicht verwundern kann. Offenkundig akzeptiert der Text daher auch nicht den antiextremistischen Konsens im Sinne einer Abgrenzung eben auch von den „linken“ und nicht nur von den „rechten“ Feinden von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 

11. Schlusswort

Bilanzierend betrachtet muss die Einstellung zu Demokratie und Freiheit im Programmentwurf der Partei „Die Linke“ als ambivalent bis kritisch eingeschätzt werden. Zwar bekennt man sich an vielen Stellen des Textes zur „Demokratie“, während man den Begriff „Freiheit“ kaum im Selbstverständnis verwendet. Es bleibt aber unklar, inwieweit das Bekenntnis zu Demokratie nur für die gegebene gegenwärtige Lage oder auch für die angestrebte zukünftige Situation gelten soll. Die Benennung von antidemokratischen Bestrebungen in der Geschichte als „linksdemokratisch“ spricht zumindest für ein absonderliches Demokratieverständnis. Darüber sollten auch nicht diskussionswürdige Forderungen nach einer stärkeren Demokratisierung der Gesellschaft hinwegtäuschen, bedarf Freiheit als Grundwert doch in der Tat auch der Freiheit der Andersdenkenden. In einem allseitigen Sinne kann sich dies nicht auf die „Sozialisten“ beschränken, was die Partei „Die Linke“ um ihrer demokratietheoretischen Verortung willen auch verdeutlichen müsste.

 

Der Autor

Armin Pfahl-Traughber, geboren 1963, Dr. Phil., Dipl.-Pol., Dipl.-Soz., Professor an der Fachhochschule des Bundes, Brühl, Fachbereich öffentliche Sicherheit, Arbeitsfelder: Antisemitismus, Extremismus, Politische Theorie, Totalitarismus, Zeitgeschichte

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