Zwei Diktaturen - eine Erfahrung

von Richard Schröder

Es ist anrüchig geworden, von den beiden deutschen Diktaturen zu sprechen. Denn, so wird uns erklärt, das bedeute eine Relativierung des Holokaust. Der darf tatsächlich nicht relativiert werden, da stimme ich zu. Nehmen wir aber einmal an, die Nazis wären 1941 nicht zur .systematischen Vernichtung der europäischen Juden übergegangen, hätten aber ihre bisherige Politik der Verfolgung und Diskriminierung der Juden und der anderen, die sie zu Volksschädlingen erklärt hatten, fortgesetzt. Auch dann hätten wir Grund genug, uns dieses Zivilisationsbruchs in der deutschen Geschichte zu schämen. Wer das bestreitet, verharmlost die NS-Diktatur. Er würde verdunkeln, dass der Holokaust nur der letzte Schritt einer Entwicklung war, die 1933 begann.

Und wer mit dem Hinweis auf die Einmaligkeit des Holokaust es für unstatthaft erklärt, von den beiden deutschen Diktaturen zu reden, verharmlost die SED-Diktatur. Er untergräbt die Bildung eines demokratischen, und das muss immer heißen: eines antitotalitären Konsens. Für diejenigen, die die stalinistische Zeit der SED-Herrschaft erlebt haben, muss solch ein Verdikt geradezu beleidigend wirken. Die unstrittige Tatsache, dass auch in der stalinistischen Zeit der SED-Diktatur etwas dem Holokaust Vergleichbares nicht vorgekommen ist, darf doch nicht dafür herhalten, die Verbrechen der SED-Herrschaft zu relativieren. Das wäre eine subtile Verhöhnung der Opfer.

Das Verdikt gegen den Diktaturenvergleich wird oft mit dem Ergebnis des „Historikerstreits" begründet: die Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland darf nicht relativiert werden mit dem Hinweis auf Stalins Terror und den GULag. Schon gar nicht darf Stalin zum Alibi für Hitler werden. Das unterschreibe ich. Aber soll deshalb verboten sein, die totalitären Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts zu vergleichen? Verglichen wird immer Verschiedenes mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erfassen. Totalitarismustheorien sind keineswegs im Ansatz verfehlt. Sie versuchen zu begreifen, wie diese Zivilisationsbrüche der Moderne möglich wurden.

Im Historikerstreit ging es nicht um den Zusammenhang der beiden Diktaturen auf deutschem Boden. Man vermied damals das Wort Diktatur für die DDR, der Entspannung wegen. Darum geht es aber jetzt. Manche sehen schon im Wort „Zusammenhang" eine Relativierung der Nazi-Verbrechen. Was das Ausmaß der Verbrechen betrifft, so steht die Singularität der Nazi-Verbrechen außer Frage. Und wir haben in Ostdeutschland, anders als in der Sowjetunion oder den baltischen Staaten, den Stalinismus nur gedämpft und in seiner Endphase erlebt. Für die wissenschaftliche Analyse ist das von Bedeutung - aber doch nicht für das Gedenken an die Opfer! Da wird die Quantifizierung zur Instrumentalisierung.

Der unbestreitbare Zusammenhang zwischen den beiden Diktaturen auf deutschem Boden besteht darin, dass sich die SED-Diktatur mit Bezug auf die Nazi-Diktatur legitimiert hat, durch ihren Antifaschismus-Mythos. Sie beanspruchte, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und hat doch aus der Geschichte das Falsche gelernt.

In der DDR wurde das Gedenken an die Opfer des Faschismus hochgehalten. Schulkassen wurden zu den Gedenkstätten in den ehemaligen KZ geführt, der kommunistische Widerstand gegen den „Faschismus" wurde in der Schule gründlich behandelt. Aber unter Faschismus verstand man die Ideologie der „aggressivsten Kreise des Monopolkapitals". Diese Faschismustheorie war ganz in die Klassenkampftheorie integriert. Und diese wurde zum furchtbar elastischen Kriterium innenpolitischer Diskriminierung und Verfolgung. Als sich Stalin mit Tito überwarf, wurde der Ausdruck „Titofaschismus" erfunden.

Der Antifaschismusmythos gebar folgendes Geschichtsbild: die Nazis haben die Kommunisten verfolgt, andere, vor allem die Juden, auch, aber die siegreiche Rote Armee hat die Nazis besiegt. Jetzt sitzen die alten Nazis im Westen und fordern Revanche. Die DDR gehört zu den „Siegern der Geschichte". Wiedergutmachung ist nicht unsere Sache, denn wir haben die sozialökonomischen Wurzeln des Faschismus ausgerottet durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Das war eine Instrumentalisierung des Furchtbaren und Erinnerung ohne Scham. So kann es denn auch nur schamlos genannt werden, wie die SED-Propaganda gegen den Staat Israel als „Speerspitze des Imperialismus" gewütet hat. Die Evangelischen Kirchen in der DDR sind diesen Geschichtsfälschungen entgegengetreten. Als die UNO-Vollversammlung mit den Stimmen auch der kommunistischen Länder den Zionismus als Rassismus verurteilt hat, haben unsere Bischöfe in einem Brief an die Gemeinden dagegen protestiert. Ein bekennender Jude hatte in der DDR mit ihrer atheistischen Staatsideologie dieselben Probleme wie ein bekennender Christ.

Es bleibt für mich eine irritierende Absurdität, dass nicht wenige Kommunisten, die selbst der Verfolgung in der Nazizeit ausgesetzt waren, mit Hilfe ihres Antifaschismusmythos die nächste Diktatur gerechtfertigt haben.

Die Kontinuitäten der beiden Diktaturen sprangen uns in der DDR unvermeidlich ins Auge. In meinem Heimatort wurde das HJ-Heim in FDJ-Heim umbenannt. Mit denselben Landsknechtstrommeln und Fanfaren, nur neu beschriftet, führte wieder eine Jugendkapelle die obligaten Massenaufmärsche an. Da gab es noch mehr Gemeinsamkeiten: die Ablehnung der Gewaltenteilung zugunsten eines Führerprinzips, die Ablehnung einer unabhängigen Justiz, die völlige Instrumentalisierung der Medien, der Kultur, des gesamten geistigen Lebens, der Missbrauch der Sozialpolitik zum Ersatz für die Bürgerfreiheit, die Installation einer allmächtigen Geheimpolizei, den Fanatismus und die aggressive Feindbildpflege. Singulär war das Verbrechen der Judenvernichtung. Der Weg dahin war nicht singulär.

Unter den Unterschieden hebe ich noch einen hervor. Spätestens seit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs mussten die Wissenden sagen: es kann nicht mehr schlimmer kommen. In der DDR dagegen mussten wir Älteren jedenfalls sagen: es war schon einmal schlimmer. Erst mit der Selbstisolierung im Krieg wurde die Judenvernichtung durchgeführt. Die Kommunisten dagegen haben mit ihren „Feinden" verhandelt und deshalb die Innenpolitik der totalitären Konfrontation nach und nach mäßigen müssen.

Wir müssen schon deshalb von den beiden deutschen Diktaturen sprechen, damit wir nicht noch einmal das Falsche aus der Geschichte lernen.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin. 1990 war er Vorsitzender der SPD-Fraktion in der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer der DDR.

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2004/3

 

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